Festvortrag
zum 10-jährigen Jubiläum und zur Einweihung des neuen Domizils des Waldorfkindergartens in Künzelsau-Morsbach
von der Kindergärtnerin Evi Wolpert
Das Kind findet Beachtung – aber es geht ihm nicht gut
Kinder werden heute ernst genommen und finden große Beachtung. Ganze Industriezweige produzieren für sie. Fernseh- und Computerprogramme sind speziell für die Kinder gemacht. Es gibt weit gestreute fördernde Angebote. Es gibt Kinderuniversitäten. Wir haben neue Forschungsergebnisse, beratende Literatur, Erziehungsberatungsstellen und zahlreiche Therapien. Dennoch geht es den Kindern heute nicht gut. Ich weiß nicht, ob Sie die Meldungen in der Presse verfolgen. Die sprachliche Entwicklung unserer Kinder ist zunehmend gestört. Die Straftaten der Jugendlichen nehmen zu. Die körperliche und seelische Gesundheit der Kinder ist besorgniserregend. Ich will nur wenige Beispiele nennen: Bewegungsmangel, Allergien, Fettsucht, Magersucht, Rheuma, Unruhe, Angst und Depression.
Was ist es, was die Entwicklung unserer Kinder so stört?
DIE KINDHEIT BRAUCHT RAUM.
Das Kind bedarf eines seelischen geborgenen Raumes. Es braucht zumindest eine Bezugsperson, die sich liebevoll kümmert, die ein wirkliches Interesse an dem kleinen Wesen hat und es in seinem so sein ganz annimmt und ernst nimmt. Auch dann, wenn es heranwächst und in dem einen oder anderen nicht ganz den Idealvorstellungen entspricht. Michaela Glöckler weist darauf hin, wie wichtig es ist, weder die Höchstleistung, noch das Versagen in den Vordergrund zu stellen und darauf zu achten, nicht mehr vom Kinde zu fordern, als es leisten kann. Das Kind braucht einen Menschen, der ganz hinter ihm steht, der ihm Halt gibt und es dennoch in seinem eigenen Willen achtet. Es braucht keine Laissez-faire-Erziehung, sondern Grenzen, damit es sich in deren Schutze frei entfalten kann.
Achtung der Persönlichkeit
Das Kind muss als Persönlichkeit geachtet werden. Es selbst bringt seine Anlagen mit. Kahlil Gibran sagt „Erziehung streut keinen Samen in die Kinder hinein, sondern lässt den Samen aufgehen, der in ihnen liegt.“ Rudolf Steiner weist darauf hin, dass die Kinder nicht nur ihre Begabungen mitbringen, sondern auch ihre Lebensaufgabe, und dass die Kinder selbst es sind, die sich alles beibringen. Er sagt „Jede Erziehung ist Selbsterziehung, und wir (…) sind nur die Umgebung des sich selbst erziehenden Kindes.“ Dies gibt uns eine große Verantwortung als Vorbild und erklärt, dass Kinder Raum brauchen zur Entwicklung ihres Eigenseins.
Raum der Behaglichkeit
Zu diesem braucht das Kind, ich möchte es einmal nennen einen Raum der wohligen Behaglichkeit. Natürlich gehören dazu auch die zuvor genannte liebevolle Fürsorge, wahre Beziehung, Achtung der Persönlichkeit. Aber es gehört noch mehr dazu, so etwas, wie Lebensfreude, Muße in Wohlgefühl. Wie gut geht es unseren Kindern, wenn wir ausgeschlafen und fröhlich sind und Zeit haben; wie gibt ihnen dies Nahrung.
Zeit, Kraft und Freude brauchen wir, um diese schaffende, webende, wohlige Atmosphäre zu erzeugen. Kann ein Kind solche erleben, so ist es ihm eine Quelle des Wohlgefühls weit über die Kindheit hinaus. Rhythmus und Gewohnheiten können helfen bewusst solche Zeiten des Atmens einzuplanen. Heute sind oft Vater und Mutter berufstätig. Die Zeit muss straff organisiert sein, um Beruf, Haushalt und Kinder unter einen Hut zu bekommen. Nachmittagstermine der Kinder erhöhen diesen Zeitdruck und behindern den Raum fürs wohlige Dasein.
Wir sind es gewohnt, nach Zeitersparnis und Effizienz zu schauen und wollen unseren Kindern eine weit gestreute Förderung zukommen lassen, eine gute Startchance für das Leben ermöglichen. Zu dem Zeitdruck, den unsere Termine und die Termine unserer Kinder mit sich bringen, kommt der Zeitdruck, der die Gesellschaft unseren Kindern aufgibt mit Früheinschulung und Turboabitur. All dies behindert die Entwicklung und geht eindeutig auf Kosten der Kräfte und Gesundheit unserer Kinder.
Da ist noch etwas, was unseren Kindern die Zeit stiehlt: Das Fernsehen. Wie viele Stunden, Tage, Wochen, Monate gehen der Kindheit durch das Fernsehen verloren. Hier werden die Kinder ausgeschaltet, es findet kein eigenes Leben mehr statt, die Initiative wird lahm gelegt, Entwicklung behindert. Hinzu kommen noch die Zeiten, die sich die Kinder mit Computer, Game-Boy oder Handy beschäftigen. Und so kann man das überall erleben.
Eine Situation in einem Gartenrestaurant: Neben mir ein Tisch mit sechs Erwachsenen, sie unterhalten sich, und daneben, wie schön, ein Tisch mit vier Kindern. Sie sind auffallend still. Was machen sie? Jedes spielt mit seinem Game-Boy. Aber es gibt noch andere Situationen, in denen Kinder ruhig gestellt werden. Zum Beispiel im Supermarkt, im Einkaufswagen. Manches Mal kann man beobachten, dass das Kind kaum den Arm ausstrecken darf. Was das Kind nachahmend hier tun will ist einladen und einladen. Ist es nicht eigentlich wunderbar, dieses unerschöpfliche Auch-Tun-Wollen, mit dem sich das Kind alles lernt und das uns so oft stört.
Das Kind braucht Raum tätig zu sein. Ein etwa 1-jähriges Kind sitzt im Park und untersucht im Gras liebevoll Kastanien. Es steckt sie nicht einmal in den Mund. Die Mutter kommt mit einem feuchten Reinigungstüchlein, säubert das Kind und nimmt es zu sich auf den Schoß. Das Kind aber will tätig sein, es möchte forschen, anderen nacheifern, möchte können, möchte helfen, möchte wichtig und erst genommen sein, in dem was es tut. Es möchte lernen, die Welt mit all seinen Sinnen erfahren.
In vielen Situationen ist es nur schwer möglich, dass das Kind so tätig ist, wie es gerne möchte. Umso wichtiger ist es, ihm Raum zu geben, in dem es tätig sein kann. Diesen Raum stellen wir dem Kind zur Verfügung, wenn wir ihm Gelegenheit geben, in kreativer Weise frei zu spielen.